Das Internet ist kaputt…

…oder, Utopien und die Tragik ihrer Unrealisierbarkeit.

Gestern musste ich lesen, dass Sascha Lobo das Internet für kaputt hält. Konkret schreibt er: „Das Internet ist nicht das, wofür ich es gehalten habe“, und weiter:

Bislang habe er geglaubt und verkündet, dass das Internet das ideale Medium der Demokratie, der Freiheit und der Emanzipation sei. Nach der Spähaffäre um die NSA und den neuen Erkenntnissen über Wirtschaftsspionage und den Kontrollwahn der Konzerne kommt Lobo zu dem Schluss: „Das Internet ist kaputt.“

iro_redHeute sage ich mir, muss ich diesem Unsinn mal was entgegenhalten. Das Internet ist nicht kaputt, es funktioniert besser als jemals zuvor. Lobo führt seine Jünger meiner Ansicht nach in die Irre. Was genau ist denn kaputt Herr Lobo? IPv6? Bandbreite? Verbindungsstabilität? ISPs? Kosten? Geräte?

Genau genommen ist das Internet noch nie in einem besseren Zustand gewesen. Was eventuell „kaputt“ ist sind die Utopien des Herrn Lobo bzw. seine Schlussfolgerungen. Er hatte erwartet, dass die Heile Welt Einkehr halten wird, dass das Internet die Fehler der Menschheit korrigiert und zur Allzweckwaffe gegen alles würde. Typische, überzogene Erwartungshaltung an „neue“ Technologien. Vielleicht aber auch nur eine Scheuklappen- oder Fachidiotenperspektive:

If all you have is a hammer,
everything starts to look like a nail.

Nun, es stellt sich raus für einige (z.B. Geheimdienste) ist das Internet eine Art Mehrzweckwaffe geworden. Technisch sind hier Leute ans Limit gegangen und haben quasi ein weltumspannendes Backupsystem für das Internet gebaut. Im Prinzip also einmal Google nachgebaut, nur dass man nicht bloß Webseiten kopiert, sondern eben auch Mails, Chats, IP Telefonate und so weiter. Eigentlich ist die NSA-Abschnorchel-Infrastruktur nur Google in konsequent!

Der „Internet Experte“ Lobo verwechselt hier seine Utopie (die so bislang nicht wahr wurde) mit der Infrastruktur Internet (die prima funktioniert). Folgerichtig ist eher die Utopie „kaputt“, bzw. nein, die Utopie besteht noch, aber die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Utopie ist halt gerade auf p = 0.0 gefallen. Das ist für Wunschträume jedoch nichts Ungewöhnliches.

Für mich stellt sich vielmehr die Frage:
„Warum baut jemand mit soviel Aufwand eine solche „Backup“- bzw. Abschnorchel-Infrastruktur? Wer baut diese ganz konkret und mit welchen Ressourcen?“

Arpanet

Die Antwort auf diese Frage ist meiner Ansicht nach eher in den Werten der Weltbevölkerung (also auch bei den Bürgern und Netzbewohnern aus Deutschland!) zu suchen, die das Handeln leiten, als in den technischen Eigenheiten einer Infrastruktur. Welche Werte sind es, die dafür sorgen, dass das Internet derzeit so genutzt wird, wie es genutzt wird? Auf der Basis welcher Werte entstand denn eigentlich das Advanced Research Projects Agency Network (Arpanet), der Vorläufer des Internet im Jahre 1962?

Das Arpanet (Advanced Research Projects Agency Network) wurde ursprünglich im Auftrag der US-Luftwaffe ab 1962 von einer kleinen Forschergruppe unter der Leitung des Massachusetts Institute of Technology und des US-Verteidigungsministeriums entwickelt. Es ist der Vorläufer des heutigen Internets.

arpanet_logical_map_1977
Quelle: Wikipedia

Werte

Ich vermisse eine Diskussion über die Werte dessen, was die Entwicklung des WorldWideWeb (der Schicht des Internet die der normale Nutzer meint) betrifft. Wenn ich mir die Entwicklungen im Standardisierungsgremium W3C anschaue, dann kann ich daran ablesen, welche Werte dort zukünftig maßgeblich vorherrschend sind. Wo bleibt die Diskussion über diese handlungsleitenden Werte? Vielleicht ist die Utopie des Sascha Lobo ja gar nicht „kaputt“, vielleicht sind nur die Werte kaputt an denen sich 7.13 Milliarden Menschen derzeit weltweit orientieren?

Interessenkonflikte?

Aber sollte man von Sascha Lobo wirklich eine Wertediskussion oder gar einen Wertevortrag erwarten? Nur mal zum Nachdenken, für folgende Unternehmen und Organisationen hat Sascha Lobo laut seiner Webseite bisher Vorträge gehalten.

lobo_vortraege_fuer

iro_greenWas sind die handlungsleitenden Werte dieser Auftraggeber, die er mit seinem Wissen unterstützt? Inwiefern stimmen diese mit den Werten im Rest der Gesellschaft überein? Wo liegen Differenzen? Inwiefern kann sich Lobo den handlungsleitenden Werten seiner Auftraggeber entziehen? Welche Werte bestimmen sein eigenes Handeln? Bei einem, der so prophetisch im Licht der Öffentlichkeit auftritt, sollten diese Fragen berechtigt sein finde ich.

Update:
So ganz allein bin ich mit meinen Fragen nicht. Alexander Wallasch schreibt im European zu Lobo’s Naivitätsbekenntnis schlicht „Aus die Maus“.

Update: Kurzfassung / TL;DR
Was Herr Lobo wohl eigentlich sagen wollte war:

In gewisser Weise hat die NSA im Internet wesentlich größere Chancen zur Weltverbesserung gesehen als selbst die Netzgemeinde. Nur dass sie eine ganz andere Auffassung von Weltverbesserung hat.

Vielleicht sind auch die handlungsleitenden Werte der Geheimdienste orthogonal oder gar diametral zu denen der so oft zitierten Netzgemeinde?

Eine positive Digitalerzählung oder auch ein von ihm so geforderter Internetoptimismus, sollte sich meiner Ansicht nach erstmal den zugrundeliegenden, handlungsleitenden Werten der Beteiligten zuwenden. Welche Werte liegen denn dem Handeln der Netzgemeinde zugrunde? Verfolgen da alle die gleichen Werte? Welche liegen denen der Geheimdienste zugrunde? Woher beziehen diese Werte ihre Begründung?

Nun ja, ich wette Herr Lobo wird schon bald die passenden Produkte Internetoptimismus und positive Digitalerzählung für seine Kunden im Programm haben. Mindestens ein Buch wird es wohl sein… den unausgesprochenen Werten treu bleibend.

Update
peuple_150Ich erinnere mich gerade an Le Peuple des Connecteurs bzw. Die Telefonisten des 21sten Jahrhunderts von Thierry Crouzet. Ich denke das ist es wert mal im Rückblick wieder hervorzuholen…

Update
rushkoff_present_shockVielleicht ist aber auch unser Zeitgeist gefangen bzw. sogar besessen von dem was genau jetzt in diesem Augenblick passiert. So schreibt z.B. Douglas Rushkoff die Welt wäre im “present shock”. Ob das jetzt nur das Agendasetting für sein neues Buch ist oder mehr, muss man wohl selbst rausfinden indem man z.B. folgenden Zeilen seine Aufmerksamkeit schenkt:

It wasn’t always like this. As recently as the end of the 20th century, the zeitgeist was animated by a kind of forward-leaning futurism. There was a sense that we were accelerating toward a big shift fueled by new technologies, networks and global connectivity. Today, that shift may have finally occurred, but rather than encouraging us to look further ahead, it has instilled in us a pervading “presentism.” Our old obsession with the pace of progress has been drowned out by the onslaught of everything that is happening right now. It’s impossible even to keep up, much less to look ahead

Da gab es aber auch schon andere die vor allem zu dem Real Time-Paradigma geschrieben haben. Vielleicht überfordern uns derzeit einfach die Echtzeitinformationen die immer mehr werden? Ich denke da z.B. auch an so Sachen wie das quantified self.

Why do I blog this? Leute die als Internet Experten bezeichnet werden und offenbar eine breite Gefolgschaft haben die ihrem „Experten“ wie einem Prediger nahezu hörig sind, bringen mich zum Nachdenken, zumindest, wenn sie komische Behauptungen aufstellen die mehr Schaden anrichten als sie angeblich aufdecken wollen. Oder will uns Lobo nur trollen? Denn das Internet ist ja nicht kaputt es wird nur anders genutzt als von Lobo erwartet. Ich hätte auch platt entgegnen können: „Internet is for Porn.“, um ihn zu trollen. Ich möchte Lobo aber nichts vorwerfen und ihn auch nicht trollen, aber mal zum Nachdenken anregen über die zugrundeliegenden Werte für das, was er da als „kaputt“ versucht zu benennen. Deshalb stelle ich auch nur Fragen in diesem Post und versuche keine Antworten zu geben. Für mich sind Antworten mit der Wertefrage unmittelbar verknüpft und nicht in erster Linie mit Technologiefeatures (wie z.B. abschnorchelfreien Leitungen).

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