Menschen orientieren sich räumlich, Distanzen spielen dabei eine entscheidende Rolle für das Vorkommen sowie die Häufigkeit passiver Kontaktmöglichkeiten und beeinflussen mittelbar die Entstehung und Entwicklung von sozialen Beziehungen. Nachfolgend wird mit dem Ansatz der „Virtuellen Proxemik“ vorgestellt, wie man das sozial-technische Defizit fehlender proxemischer Funktionalitäten in Mehrbenutzerapplikationen (MBA) durch die Implementierung einer künstlichen Proxemik verringern könnte. Softwarekomponenten der Virtuellen Proxemik könnten die Adaptivität von virtuellen Kontexten an soziale Bedürfnisse wie z.B. Kommunikation verbessern und damit durch eine Erhöhung von Effektivität und Effizienz zu einer Qualitätsverbesserung in der Nutzung von MBA führen.
Die Frage
In der realen Welt (nicht vermittelt durch künstliche/technische Medien) wird unser Interaktionsverhalten wesentlich bestimmt durch Distanzen. Zum Beispiel Distanzen zwischen Nachbarn, Distanzen zwischen Arbeitsplatz und Wohnung, Distanzen zwischen dem Büro und der Teeküche, Distanzen zwischen dem Einkaufscenter und dem Wochenmarkt usw. Alle diese Distanzen bestimmen zu einem bedeutenden Teil mit, wen wir treffen, mit wem wir unsere Freizeit gestalten, wo wir einkaufen, und vieles mehr.
In der virtuellen Welt (künstliche, computervermittelte Welt) fallen die gewohnten Distanzen zunächst weg. Das bedeutet, sobald wir in der virtuellen Welt eintauchen, verschwinden die gewohnten Distanzkonzepte. Alles ist plötzlich gleich nah und gleich weit weg. Der virtuelle Raum ist vielmehr ein (Treff-)Punkt als ein Raum.
Der Mensch ist es allerdings gewohnt sich räumlich zu orientieren und vor allem Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen „räumlich“ anzubahnen. Das bedeutet, dass man sich z.B. langsam dem Gegenüber nähert und dann freundlich eine Unterhaltung beginnt. In der realen Welt findet eine räumliche Annäherung oft per Zufall statt, z.B. wenn man sich auf dem Flur eines Bürogebäudes begegnet oder in einem Einkaufscenter den Nachbarn trifft. Diese „zufällige“ Begegnung ist aber nur teilweise vom Zufall bestimmt, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ich jemandem begegne, den ich gut kenne hängt davon ab, WO ich mich aufhalte.
In meine Heimatstadt treffe ich ganz sicher mit viel höherer Wahrscheinlichkeit Freunde und Bekannte im Einkaufscenter als in einem Urlaubsort. Die Wahrscheinlichkeit einer Interaktion z.B. in Form eines Gesprächs wird also durch die Distanz zu meinen Freunden und Bekannten bestimmt. Sie ist höher wenn ich ihnen nahe bin (Heimatstadt) sie ist viel geringer, wenn ich Ihnen fern bin (Urlaubsort). Die Variable Distanz hat also einen entscheidenden Einfluss auf die Kommunikation.
Frage: Müsste also die Distanz nicht auch in virtuellen Kontexten eine ähnliche Wirkung haben? Aber wie misst man Distanz und wie zeigt man sie in einer virtuellen Umgebung?
Das Problem
Problem: Blockiertes Display und fehlendes Displayfeld bzw. View
In einer virtuellen Umgebung, wie z.B. dem Internet fehlt die Distanz bzw. sie ist vielleicht da, aber man sieht sie nicht. Das merkt man ganz schnell, wenn man einmal einen InstantMessenger wie z.B. Skype oder AIM benutzt hat. Dann stellt man fest, dass die Kontaktaufnahme oft den Eindruck des „Hereinplatzens“ in die Privatsphäre des anderen erweckt. Es gibt keine kontinuierliche Annäherung an den Kontaktpartner.
Im Virtuellen kann man auch nicht sagen wie weit weg man von seinem Nachbarn ist. Es fehlt das üblicherweise allgegenwärtige Distanzsystem. Noch problematischer jedoch ist, dass sich in einer virtuellen Umgebung oft nicht einmal Hinweise darauf finden lassen, ob andere Nutzer überhaupt da sind. Zwar gibt es meist „Wer ist online?“-Anzeigen, aber mehr Information gibt es nicht und meist fehlt sogar diese Information.
Letztlich fehlen Nutzern in einem virtuellen Kontext Eigenschaften des Raumes, wie sie in der Realität ganz normal vorhanden sind. Es fehlt ein Raum in dem man sich zeigen kann und auch gesehen wird. Damit wird die natürliche Kommunikation im virtuellen Kontext stark eingeschränkt.
Eine Lösung
Lösung: Proxemisches Display und individuelles Displayfeld bzw. View
Eine Idee zur Lösung dieses Problems habe ich mit meinem Beitrag „Virtuelle Proxemik: Oder wie man Menschen in virtuellen Räumen einander näher bringen könnte., In: Proceedings of the Lecture Notes in Informatics (LNI), DeLFI 2006, Germany“ (als PDF) vorgestellt. Die Grafik zur Lösung zeigt, dass man Distanz zwischen Nutzern nur zu visualisieren braucht, um proxemische Kommunikation zu ermöglichen.
Die 2006 erstmals vorgestellte Lösungsskizze habe ich im Rahmen meiner Dr.-Arbeit mittlerweile detailliert ausgearbeitet. Sie umfasst vor allem eine spezielle Softwarelösung, die in beliebige Desktop- und Webapplikationen (MBA) mit grafischer Benutzerschnittstelle integriert werden kann. Die Wirkung dieser neuen Komponente auf das Verhalten der Nutzer habe ich empirisch in einem Feldexperiment im Jahr 2006/2007 untersucht und sehr positive Ergebnisse erhalten.
Am 14. Oktober 2008 habe ich meine wissenschaftliche Arbeit erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Folien des Vortrags, den ich gehalten habe, konnte man nachfolgend eine Zeit lang einsehen. Ich habe darin versucht mich auf einen Kern notwendiger Informationen zu beschränken, die Arbeit selbst ist deutlich detaillierter und sicher eher für Spezialisten interessant.
[Folien entfernt]
In Kürze wird auch die Arbeit öffentlich abrufbar sein (ist sie mittlerweile; wer eine Bibliothekssuche beherrscht wird sie finden.). Darin sind u.a. auch wesentliche Teile enthalten, die sich ausführlich mit dem Begriff der „Präsenz“ befassen.
Der Begriff ist mir sehr wichtig, denn bislang konnte man den Eindruck gewinnen, der Begriff selbst würde weitgehend gedankenlos verwendet. Was da alles als Präsenz bezeichnet wird ist schon eher als fantastisch zu bezeichnen. Ich hoffe vor allem mit meiner Arbeit an dem Begriff der Präsenz einen Beitrag geleistet zu haben. Das ist mir wichtiger, als die ganze empirische Studie, die ich ebenfalls über die Ko-Präsenz durchgeführt habe. Die Definition der Raum-Zeit-Präsenz ist aus meiner Sicht das wesentlich wertvollere Produkt meiner Arbeit. Mit diesem Konstrukt kann man strukturiert arbeiten und vor allem auch Dinge messen und überprüfen. Präsenz ist messbar, wer hätte das gedacht.
5 Gedanken zu „Virtuelle Proxemik (Dissertation)“